Tadschikistan droht Chaos

Tadschikistan droht Chaos
Quelle: Collage tvnva, Archiv tvnva, wikipedia

Die 201. russische Division in Tadschikistan droht von Taliban eingekesselt zu werden.

Vor der Androhung einer Invasion aus Afghanistan hat Duschanbe die Mobilisierung von 20.000 Reservisten angekündigt.

Das für Russland wichtigste Land in Zentralasien stürzt ins Chaos. Aber der wahre Machtzusammenbruch findet in Afghanistan statt. Dort gewinnen die islamistischen Taliban vor dem Hintergrund des Rückzugs der USA und ihrer NATO-Verbündeten immer mehr an Einfluss. Und die Regierung in Kabul und das ihr unterstellte Militär scheinen mehr daran zu denken, ihr eigenes Leben zu retten, als an das Schicksal des ganzen Landes. Infolgedessen waren schon Anfang Juli etwa 60-80 Prozent des Territoriums Afghanistans unter der Kontrolle der Taliban. Ganze Garnisonen der afghanischen Armee ergeben sich bereitwillig und ohne Widerstand den angreifenden Taliban. So geschah es auf einem Militärstützpunkt der Regierungstruppen in Kandahar. Nach nur zwei Tagen der Belagerung hissten die Regierungssoldaten die weiße Fahne. Die Lage ist so alarmierend, dass das russische Konsulat in Masar-i-Sharif in der Nähe von Usbekistan seine Arbeit eingestellt hat. Die Diplomaten wurden, bis die Situation geklärt ist, nach Kabul evakuiert. Kabul scheint noch in der Hand der Regierungstruppen zu sein. Auch die Türkei, Pakistan und der Iran haben ihre Konsulate in Masar-i-Sharif geschlossen.

Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die diplomatischen Vertretungen der verschiedenen Länder bald auch aus Kabul fliehen müssen. Zuallererst die riesige US-Botschaft. Bereits im April wurde sie auf Befehl Washingtons in den „Teilevakuierungsmodus“ versetzt. Aber es blieben etwa 1400 Amerikaner in der Mission. Die Vereinigten Staaten hofften, dass nach dem geplanten Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan am 11. September mindestens 650 ausländische Militärs übrig bleiben werden, um die Botschaften in Kabul zu bewachen und zu verteidigen. Aber das wird nicht geschehen. Die Taliban triumphieren bereits über den kommenden Sieg und haben erklärt, dass nach dem 11. September 2021 jeder ausländische Soldat in ihrem Land als legitimes Ziel behandelt wird. Folglich müssen die US-Botschaft und alle anderen nicht teilweise, sondern vollständig evakuiert werden.

Für Moskau ist das besonders alarmierend, weil sich fast alle nördlichen Provinzen Afghanistans, die an die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken grenzen, schon in den Händen der Taliban befinden. Tadschikistan ist in größter Gefahr. Fast auf der gesamten Länge der 1.430 Kilometer langen Staatsgrenze zu Afghanistan sind die Taliban mit tadschikischen Grenzposten in direkten bewaffneten Kontakt gekommen. Nur 70 Kilometer entfernt von der russischen Basis der 201. Division in Tadschikistan wüten heftige Grenzgefechte. Und Tausende von Soldaten und Offizieren der afghanischen Armee, die nicht an die Menschlichkeit der Taliban glauben oder andere Gründe für die Flucht haben, ziehen sich über den Grenzfluss Pyanj nach Tadschikistan zurück. Den Standpunkt der Taliban zu den Geschehnissen an der tadschikischen Grenze skizzierte der offizielle Vertreter dieser Bewegung, Zabiullah Mujahid, wie folgt: „Letzte Nacht besetzten wir ein großes Gebiet in der Provinz Badakhshan. Diejenigen, die eigentlich diese Region im Auftrag der Kabuler Regierung verteidigen sollten, flohen von dort. Infolgedessen kam das Gebiet unter unsere Kontrolle. Wir verfügen über reguläre Truppen in allen uns zur Verfügung stehenden Gebieten des afghanischen Territoriums“.

Die Frage, die sich jetzt für Moskau, Duschanbe und wahrscheinlich für die ganze Welt stellt, ist: Werden die Taliban in nördlicher Richtung auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion vordringen?

Die Führer der Taliban geben dazu beruhigende Erklärungen ab. Aber zumindest in Duschanbe glauben ihnen nur sehr wenige Menschen. Jedenfalls glühen die Regierungstelefone aufgrund ständiger Verhandlungen auf höchster Ebene bereits im Viereck Tadschikistan-Usbekistan-Kasachstan-Russland. So sprach der Führer Tadschikistans, Emomali Rachmon, am Montag lange mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Lage an der Grenze zu Afghanistan. Von Moskau erhielt er die Zusicherung, Russland werde sein Land nicht in Stich lassen und die notwendige Unterstützung leisten, sowohl bilateral als auch im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Über die bilaterale Hilfe von Russland besteht kein Zweifel. Moskau kann einfach nirgendwo hin, denn auf dem Territorium Tadschikistans ist praktisch eine ganze russische motorisierte Schützendivision auf der bereits erwähnten Militärbasis stationiert. Und auch der wichtigste optisch-elektronische Komplex für das russische Satellitenkontrollsystem befindet sich in Tadschikistan. Es stellt sich nur die Frage nach dem Zeitpunkt, der Form und dem Umfang einer solchen Unterstützung. Aber was die Hilfe für Tadschikistan durch die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (ODKB) betrifft, gibt es berechtigte Zweifel. Die Organisation hat sich bisher in keinem der zahlreichen bewaffneten Konflikte im postsowjetischen Raum gezeigt. Jüngstes Beispiel ist der Krieg in Berg-Karabach, wo das Vertragsmitglied Armenien, außer von Russland, von allen allein gelassen wurde. Kein einziger Soldat kam aus Weißrussland, aus Kasachstan, Kirgisistan oder Tadschikistan den Armeniern zu Hilfe, nicht einmal symbolisch, um einen Verbündeten zu unterstützen. Aber die Budgets dieser friedenserhaltenden Organisation werden gerne angenommen, Waffen aus Moskau werden zu Vorzugspreisen geliefert und die Alliierten führen regelmäßig Militärübungen durch. Daher verwundert es nicht, wenn Putins Versprechen, Tadschikistan gegen die Taliban zu verteidigen und dabei die Kampffähigkeiten der (ODKB) zu nutzen, bei Rachmon keine Begeisterung erweckt. Er beschloss vernünftigerweise, sich selbst zu retten. Nach den Verhandlungen mit Moskau wies er seinen Verteidigungsminister Sherali Mirzo an, dringend mit der Mobilisierung von 20.000 Reservisten zu beginnen. Mit anderen Worten, er versuchte sofort, die Streitkräfte Tadschikistans um das 2,5-fache zu verstärken (heute sind es nur 8.800 Soldaten und Offiziere). Es sieht aus wie eine Geste der Verzweiflung. Denn wenn die Taliban, deren Gesamtzahl von ausländischen Militärexperten auf rund 100.000 Militante geschätzt wird, in naher Zukunft über den Fluss Pyanj in nördliche Richtung stürmen, wird eine solche Mobilmachung von Rachmon nicht helfen. Nicht nur, weil militärisch zeitgemäß ausgebildete tadschikische Reservisten fehlen, sondern auch weil Tausende von ihnen nach dem 20. Januar 2021, als das Land ein neues Gesetz „Über die allgemeine Wehrpflicht und den Wehrdienst“ verabschiedete, nur noch registriert sind. Das neue Gesetz gab den einheimischen Jugendlichen das Recht, nicht zur Armee zu gehen, sondern bei Zahlung einer bestimmten Gebühr an die Staatskasse, deren Höhe von der Regierung festgelegt wird, in der sogenannten Einberufungsreserve zu dienen (wie in der Türkei). Die Reihenfolge und Qualität eines solchen Kampftrainings ist lächerlich. Nur einen Monat in der Kaserne und nach dem neuen Gesetz gilt man dann als Kämpfer für eine moderne Kriegführung. Es wäre ja in Ordnung, wenn eine solche Armee wenigstens eine gewaltige Bedrohung für einen Gegner darstellen würde. Diese Idee geht aber nicht auf. Denn sowohl ein Teil der Armee als auch ein Teil der Reservisten könnten im entscheidenden Moment ihre Bajonette gegen Rachmon selbst richten. Denn die Sympathie einer nicht unerheblichen Zahl tadschikischer Bürger gilt mittlerweile den herannahenden Taliban.

1992-1997 tobte in Tadschikistan ein erbitterter Bürgerkrieg. Tausende Mitbürger kämpften damals in den Reihen der vereinigten tadschikischen Opposition gegen Emomali Rachmon und seine Unterstützer. Die Trainingslager, in denen diese bewaffneten Kämpfer ausgebildet wurden, die sich dem offiziellen Duschanbe widersetzten, befanden sich in Afghanistan. Von dort aus griffen lokale Banditen zusammen mit afghanischen Mudschaheddin nicht nur Regierungstruppen, sondern auch russische Grenzsoldaten an. Insbesondere zerstörte eine solche vereinigte Abteilung am 13. Juli 1993 in einem zehnstündigen erbitterten Kampf den 12. Grenzposten der russischen Grenzabteilung, der die tadschikische Grenze bewachte. 4.498 Mitglieder dieser vereinigten tadschikischen Opposition sind, nachdem am 23. Dezember 1996 in Moskau das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, als hartgesottenen Kämpfer in die offiziellen Sicherheitsstrukturen der sich gerade formierenden Tadschikischen Republik integriert worden. So begann die Aufstellung der heutigen Streitkräfte Tadschikistans und der Nationalgarde.

Wahrscheinlich haben die meisten dieser ehemaligen Oppositionellen inzwischen die Armee verlassen. Aber geblieben ist in den tadschikischen Kaserne eine ganz eigentümliche „spirituelle“ Atmosphäre. Daher weiß niemand wirklich, wie sich eine solche Armee verhalten wird, wenn etwas Ernstes passiert. Nicht in Duschanbe, nicht in Moskau. Noch weniger vorhersehbar ist das Verhalten der hastig einberufenen Rekruten und bewaffneten Reservisten.

Vermutlich wegen der offensichtlichen Unzuverlässigkeit der eigenen Armee löste ein Propagandavideo der Taliban eine sehr nervöse Reaktion des offiziellen Duschanbe aus. Es erschien im Dezember 2020 im Internet unter dem Titel „Eroberung der Region Maimai“ und wandte sich an die Sicherheitskräfte Tadschikistans. Tatsächlich handelt es sich um einen Videobericht der Taliban über ihren Angriff auf einen afghanischen Polizeiposten am Ufer des Pyanj in der Region Maimai in der nordafghanischen Provinz Badakhshan. Das Filmmaterial zeigt deutlich, wie die Militanten nach einem kurzen Gefecht in den Posten eindrangen und ein Gemetzel begann. Nach Angaben der Taliban wurden 23 afghanische Soldaten sowie der Leiter der Bezirkssicherheitsabteilung und seine Stellvertreter getötet. Aber das Bemerkenswerteste ist, dass diese Taliban-Bande überwiegend aus ethnischen Tadschiken bestand, die ihre Gesichter nicht einmal verbargen. Im Film wandte sich ihr Anführer am Ufer des Pyanj mit folgenden Worten an die Sicherheitskräfte Tadschikistans: „Wir haben es hier, auf unserer Seite des Flusses geschafft. Und wir kommen zu Ihnen und machen dasselbe mit Ihnen.“ Dieser Dokumentarfilm beeinflusst immer noch stark den politischen und moralischen Zustand der wenigen und schlecht ausgebildeten Streitkräfte und der NationalgardeTadschikistans.

Ohne Fernglas kann man heute sehen, wie die siegreichen Taliban schon am anderen Ufer des Pyanj, ihre Waffen schwenken.

 

Ende der Übersetzung

Quelle: Sergey Ischenko, Swobodnaja Pressa. 07.07.21

von Redaktion (Kommentare: 0)

Zurück

Einen Kommentar schreiben